Was heißt eigentlich Qualitätsjournalismus?

Es gibt Begriffe, die sind in gewissen Branchen in gewissen Zeiten einfach „en vogue“. Als ich noch Berater war, waren meine alltäglichen Buzzwords: „Impact“, „Insights“, „Was ist das so what?“ und „Machen wir mal einen Schritt zurück!“.

Was heißt eigentlich Qualitätsjournalismus?

Seitdem ich nun in der Medienbranche unterwegs bin, lauten sie „KI“, „Fake News“ und eben „Qualitätsjournalismus“.

Guter Journalismus, und wie man diesen auch im digitalen Zeitalter bewahren kann, bewegt die Gemüter von Journalisten, Redaktionsleitern und Verlagschefs.

Wenn man „Qualitätsjournalismus“ googelt, werden einem mehr als 200.000 Suchergebnisse angeboten. Viele Beiträge gehen vor allem darauf ein, wie Qualitätsjournalismus zu bewahren sein. Nicht zuletzt lehnte Hans Leyendecker im Jahr 2012 den Henri-Nannen-Preis ab, weil neben ihm auch Redakteure der BILD-Zeitung ausgezeichnet wurden – „ein Kulturbruch“, in seinen Worten, eine Boulevardzeitung mit Deutschlands namhaftesten Preis für Qualitätsjournalismus auszuzeichnen.

"Guter Journalismus ist der Feind des Journalismus"?!

Mit dieser Aussage ploppte heute Morgen ein Tweet in meiner Twitter-Timeline auf. Ein Foto von einem Print-Artikel von Armin Thurnher. In Neudeutsch sage ich dazu: OMG.

In klassischem Deutsch: Wie anmaßend!

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Jan Krone schrieb bereits 2010 im Medien-Blog Carta: "Das Unwort vom Qualitätsjournalismus lässt sich als Muffe zwischen Ideologien und Interessen begreifen.“ Das Konzept sei lediglich ein "moralisches Bollwerk einer publizistischen Elite“.

Denn klar, die publizistische Elite versucht sich über Konstrukte wie „Qualitätsjournalismus“ oder "guten Journalismus" u. a. von neuen Mitspielern, insbesondere im Bereich des Online-Journalismus, abzugrenzen. Das hat nur weniger mit einer geringeren journalistischen Kompetenz von Online-Journalisten zu tun als mit den Ängsten der traditionellen (Elite-)Journalisten. Diese fürchten nämlich einen Verlust der Reputation und Gewohnheiten des Printmedienalltags.

Vor allem aber hilft es traditionellen "Qualitätsjournalisten“ auch nicht dabei, die glorreiche Vergangenheit in die Zukunft zu retten.

"Qualitätsjournalismus" – irgendwas zwischen Modewort, ideologischem Tarnbegriff und Tautologie

Mit diesen Worten bezeichnete Volker Lilienthal, Professor am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg, den Begriff in einer Sitzung des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien im Jahr 2011.

Denn wenn man sich auf die Grundlagen der Grundlagen besinnt, denen Journalisten in ihrem Berufsethos verpflichtet sind, dann kann es nur eines geben: Journalismus und die Abwesenheit von Journalismus.

Der journalistische Ethos verpflichtet nämlich Journalisten aller Medien und aller Art, ob nun mit oder ohne tautologischem „gut“ oder „Qualitäts"-Zusatz davor, dazu, die Gesellschaft sachlich, kritisch, transparent mit wahren Informationen über politische, wirtschaftliche und sonstige relevante Sachlagen zu informieren.

Der Pressekodex aus dem Jahr 1973 ist als Grundlage dieses Ethos und journalistischer Leitlinien von Redaktionen und Medienhäusern auch im Internetzeitalter immer noch ausnahmslos aktuell.

Plattformen, die Propaganda und Falschinformationen verteilen, Lobby- oder Sonderinteressen vertreten, haben mit Journalismus einfach nichts am Hut.

Es kann nur eines geben: Journalismus - und die Abwesenheit von Journalismus

Wie wär‘s also: Mehr Journalismus brauchen wir. Mehr Journalismus, der sachlich recherchiert, Informationen zusammenträgt, neutral berichtet; der nicht übereilt urteilt, nicht politisch, parteiisch, ideologisch agiert. Ein Journalismus, dem die Öffentlichkeit vertrauen kann.

Dann müssen wir uns um die Qualität der Information der Öffentlichkeit keine Sorge machen. Und um "guten" oder "Qualitätsjournalismus" eben auch nicht. Und dann können das die Kollegen mit ihrer Herablassung gegenüber dem "gemeinen Journalisten" einfach bleiben lassen.

Woher kommt dann aber diese ganze Diskussion um "guten Journalismus"?

Wie weiter oben schon gesagt, ist eine meiner Hypothesen, dass die Wurzeln der "Qualitätsjournalismus"-Diskussion zum einen in einem Abgrenzungsbedürfnis klassischer Elite-Publizisten liegen.

Zum anderen sind Ursachen der Diskussion aber wahrscheinlich auch darin zu finden, dass sich der Berufsstand der Journalisten bislang noch nicht ausreichend damit befasst hat, inwiefern das Internet die Gütekriterien für Journalismus verändert oder beeinflusst hat.

In alter Beratermanier würde ich da sagen: „Nun erst mal einen Schritt zurück!“ und fragen: Was bedeutet "Journalismus" im digitalen Zeitalter? Welches sind die Gütekriterien von Journalismus nach den Regeln des Internets?

Denn, keiner kann es abstreiten: Im Internetzeitalter haben sich die Rahmenbedingungen für Journalismus verändert. Auf zwei Einflussfaktoren möchte ich da etwas tiefer eingehen:

  • Die veränderten Durchlaufzeiten von "News Cycles" – oder wie Johannes Boie von der Süddeutschen Zeitung es ausdrückte: „Die Zeitung als zeitlich abgeschlossenes Produkt wird es nie wieder geben. Stattdessen bilden elektronische Medien im Internet den Strom aus Ereignissen als das ab, was er ist: endlos.“
  • Die mediale Emanzipation der Allgemeinheit, sowie der einhergehende Verlust des Deutungsmonopols von Journalisten.

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Veränderte Durchlaufzeiten von "News Cycles"

Medien im 21. Jahrhundert befinden sich im laufenden Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit im Wettlauf mit der Zeit. Dies spiegelt sich unter anderem in einem schon traditionsreichen Wettstreit der Superlative wieder. Wintereinbrüche wurden schon immer schnell zum Schneechaos, eine Fehlleistung zum Skandal, ein Unfall zur Tragödie.

Heute, im Zeitalter von "Mobile First", gewinnt zusätzlich das Medium, das die Push Notification eine halbe Minute früher auf die Handys der Welt ausgeliefert hat. Einzelne Journalisten unterstützen den "Ich war zuerst!" durch persönliche, oft unfundierte Mutmaßungen in den einschlägigen sozialen Medien.

Der Kollateralschaden? Im Branchenslang würde man sagen: Immer mal wieder ein bisschen „Fake News“, von denen man dann brav zurückrudern muss. Unbestätigte Informationen werden herausgegeben, auch wenn man sie im Zweifel später wieder zurücknehmen muss.

"Tweets of Consciousness" versus Journalismus

Die Journalistin Alison Smale wurde vom Alumni Magazin ihrer Alma Mater, der University of Bristol, um einen Ratschlag für angehende Journalisten gebeten. Dieser lautet wie folgt:

„Truth is really important. The temptation nowadays is to press a button and move information around from one place to another. As a journalist, you must resist. You need to make sure that you know it’s the truth, or at least that you believe it’s the truth.“

Diesem Rat folgen viele Journalisten, im Wettlauf um die nächste Push Notification oder den nächsten Tweet, nicht. Insbesondere im Social-Media-Kosmos hat sich eine Dynamik entwickelt, wo in meiner Wahrnehmung (!) insbesondere Journalisten offensichtlich dem Druck unterliegen, ihren Senf sofort und zu allem und jedem dazugeben zu müssen.

Für mich eines der eindrücklichsten Beispiele war der G20-Gipfel in Hamburg: Hier polterten einschlägige Branchenpersönlichkeiten im Zuge der „Welcome to Hell“-Demonstration zunächst vor allem gegen die Polizei. Als Randalierer dann das Schanzenviertel zerlegten, war der Social-Media-Diskurs dann schnell von einer Welle der Entrüstung über "linke Gewalt" und Bemitleidung der Polizei geprägt. Natürlich dominiert von denselben Personen. So etwas ist zweifellos kein Journalismus.

So etwas lässt sich eher als "Tweets of Consciousness" bezeichnen denn als Journalismus.

Die mediale Emanzipation der Allgemeinheit und das Ende der journalistischen Deutungshoheit

Der zweite wichtige Einflussfaktor, der in meinen Augen einen erheblichen Einfluss auf journalistisches Arbeiten von heute hat, ist die mediale Emanzipation, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten vollzogen hat. Im September 2017 hatte Facebook in Deutschland 31 Millionen aktive Nutzer. 2016 zählte Instagram neun Millionen und Twitter drei Millionen solcher aktiven Nutzer pro Monat.

Das bedeutet nicht nur, dass jeder mit Internetzugang heutzutage die berühmten "Informationen an seinen Fingerspitzen" hat, sondern auch Influencer und YouTube-Star werden kann. Jeder kann heute viral gehende Tweets oder Facebook-Posts erstellen, zumindest seine Meinung kundtun. Jeder hat heute immer eine Stimme, nicht nur alle vier Jahre, wenn Bundestagswahl ist.

Das stellt die Deutungshoheit, die Journalisten einst für sich beanspruchten, fundamental auf den Kopf.

Und so ist eines meiner neuen "Lieblingszitate" aus einer kürzlichen Unterhaltung mit einem Journalisten über den Community-Journalismus-Ansatz von Merkurist, das folgende: „Den Leser mitbestimmen lassen? Aber ich möchte meine Leser doch überraschen!“

Das ist ja schön und gut. Das Problem an der Sache ist nur: Das Gros der Leute möchte sich von irgendwelchen Journalisten, die es nicht kennt, einfach nicht mehr überraschen lassen.

Selten wurde Journalisten ein so großes Misstrauen entgegengebracht wie heute. „Lügenpresse“, „Fake News“ sind die Schlagworte. Laut einer Umfrage von infratest dimap im Auftrag von DIE ZEIT hatten 2015 60 Prozent der Deutschen wenig bis gar kein Vertrauen in die Medienberichterstattung.

Journalisten, die einem die Welt erklären und erläutern, wie man doch bitte über Dinge nachzudenken habe? Diese einst unumstrittene Deutungshoheit wird immer weniger anerkannt. Mein Nachbar hat schließlich auch eine Meinung.

Publikum als neue Qualitätsbewertungsperspektive

Margareth Lünenborg, Professorin für Kommunikationswissenschaft und Direktorin des Internationalen Journalisten-Kollegs an der FU Berlin, legte in einem Aufsatz für die Bundeszentrale für politische Bildung dar, dass sich Qualität heutzutage nicht mehr nur aus professioneller Warte, sondern eben auch aus der Sicht des Publikums selbst bewerten ließe. „Wird ein solcher Perspektivwechsel vorgenommen, so verändern sich die Kriterien, anhand derer bewertet wird. Stehen in der professionellen Bewertung Kriterien wie Relevanz, Vielfalt, Aktualität, Glaubwürdigkeit, Unabhängigkeit, Rechercheleistung und Kritik im Mittelpunkt, so erhalten aus der Rezipientenperspektive unter User Quality gefasste Kriterien wie Verständlichkeit sowie leichte und vielfältige Zugänglichkeit verstärkt Bedeutung.“

Dem würde ich widersprechen: Auch aus Publikumssicht sind sogenannte „professionelle Bewertungskriterien“ wichtig. Das Publikum bringt nur eben auch sein eigenes Wertesystem mit, mit denen es genau diese Faktoren bewertet.

Glaubwürdigkeit zum Beispiel speist sich im Internetzeitalter immer weniger aus der Ausbildung, die jemand genossen hat, oder dem Status der Institution, für die jemand arbeitet. Stattdessen ist es mehr und mehr der Dienst an die Community, den man leistet, aus dem Sozialkapital und schließlich Anerkennung und Glaubwürdigkeit erwächst. Offline und ganz besonders eben auch online.

Glaubwürdigkeit von Journalismus und Deutungsdemokratisierung

Die Entwicklung der politischen und medialen Landschaft in Deutschland im Kontext der so genannten „Flüchtlingskrise“ spricht hierzu Bände. Die Otto-Brenner-Stiftung attestierten den so genannten Leitmedien eine Berichterstattung, die der Meinungsvielfalt im Land und – am Ende – auch dem Auftrag der Medien als kontrollierende und Meinungsvielfalt abbildende Gewalt nicht gerecht wurde.

Was passierte (ohne das nun unicausal jetzt nur den Medien in die Schuhe schieben zu wollen)? Ein Aufschwung des Rechtspopulismus, eine AfD, die bei den Bundestagswahlen 2017 12,6 Prozent aller Stimmen erzielte. Ihre Wählerschaft fiel nicht zuletzt durch ein besonders hohes Misstrauen gegenüber der Mainstream-Presse auf. Sie suchte sich neue, „alternative“ Informationsplattformen wie Journalistenwatch, Russia Today Deutschland oder Epoch Times.

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Ähnlich verhält es sich mit der politischen und medialen Entwicklung in den Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit den US-Präsidentschaftswahlen 2016 und nun der Trump-Präsidentschaft. Hier ist es für den US-Präsidenten und seine Anhänger schon zur Selbstverständlichkeit geworden, etablierte Traditionsmedien pauschal als „Fake News“ zu diskreditieren oder gar aus seinem „Press Room“ zu werfen.

Plattformen wie Breitbart haben neue Popularität erlangt. Der amerikanische Präsident sendet aus Trump Tower in New York nun regelmäßig so genannte „Real News“ über die tagtäglichen Erfolge des Präsidenten vor einer Wand mit Trump/Pence-Wahllogos. Dies ist in einem Land, das doch einst der Inbegriff von Pressefreiheit und Unabhängigkeit war, tatsächlich Realität geworden.

Die zahlreichen Initiativen sogenannter Leit- und Qualitätsmedien, in Deutschland sowie den USA, zur Entlarvung neuer, rechtspopulistischer News-Plattformen als Fake-News-Verteiler haben Trump weder verhindert noch geschädigt. Der AfD haben sie möglicherweise unterm Strich sogar mehr geholfen als geschadet. Dies belegen nicht nur die Bundestagswahlergebnisse, sondern u. a. auch eine Studie der Yale University, der zufolge selbst die Kennzeichnung von Falschinformationen als solche viele Menschen nicht davon abhielt, sie zu glauben.

Die Deutungshoheit über das, was ist und wie es zu interpretieren sei, wird keiner externen und insbesondere keiner traditionellen journalistischen Instanz mehr ‚einfach so‘ überlassen.

Rückbesinnung auf journalistischen Ethos, Auseinandersetzung mit Treibern der Desinformation

Wir befinden uns also in einer Welt, in der Journalisten auf der Jagd nach der nächsten Push Notification und dem nächsten Tweet manchmal die Grundlagen des journalistischen Ethos um Wahrhaftigkeit und Sorgfalt vergessen mögen.

Wir befinden uns auch in einer Welt, in der die Deutungshoheit von Journalisten in neuer Konkurrenz mit der Deutungsautorität von Social-Media-Größen, sogenannten Influencern, steht.

Eine Diskussion um angeblichen "Qualitätsjournalismus" versus "Journalismus" oder geringerwertigen Journalismus bringt in diesem Zusammenhang gar nichts.

Allein eine Rückbesinnung auf die Grundlagen der Grundlagen des journalistischen Berufsethos und eine Auseinandersetzung damit, dass sich die Rahmendingungen dafür, diesen Ethos zum Leben zu erwecken, eben verändert haben.

Nur so lässt es sich vorgehen gegen Desinformation.

Denn Desinformation ist der Feind des Journalismus.

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