Die Logik von Lernen, Veränderung und Leadership – in und jenseits der Medienbranche

Dieser Blogpost ist Teil 5 der Reihe „Ein mehrteiliges Plädoyer für mehr Leadership in Journalismus und Medienbranche“

Die Logik von Lernen, Veränderung und Leadership – in und jenseits der Medienbranche

Hier geht es zum einleitenden Ausgangstext. Wie lernt man und wie entwickelt man sich weiter? Nun, in der Schulzeit spielten da Lehrer eine Rolle, in der Ausbildung dann Professoren, Meister, Mentoren. In der Regel haben aber die größten und wichtigsten Lernerfahrungen in unserem Leben wenig mit Lehrern oder sonstigen Experten vom Fach zu tun. Stattdessen sind häufig Erfahrungen die wichtigsten persönlichen wie fachlichen Entwicklungsmomente.

„Da wurde ich ins kalte Wasser geschmissen“, ist so eine Redewendung, die zum Ausdruck bringt: Viele Dinge, die privat wie beruflich von uns abverlangt werden, lassen sich an Schulen, in Ausbildungen und an Universitäten nicht lernen. Erst die Konfrontation mit ihnen, die Erfahrung, lehrt sie uns.

So ist es um alle Lernerfahrungen bestellt, die über reine Logik und pures Wissen hinausgehen. Sozialkompetenz, Mitarbeiterführung, Fähigkeit zum Umgang mit Druck – so etwas lernt man niemals beim Lesen eines Buchs. So etwas lernt man aus Erfahrungen, und zwar Erfahrungen, die durch ein wesentliches Merkmal gekennzeichnet sind: Sie manövrieren uns in einen Zustand des Unbehagens. Es ist in diesem Zustand des Unbehagens, weit weg von der so genannten „Komfortzone“, in dem wir Wissen und Weisheit entwickeln können, die sich durch Lehrer und Bücher nicht transportieren lassen.

Genauso verhält es sich mit Lernprozessen – nicht nur des Einzelnen, sondern auch ganzer Gruppen: Damit Gruppen bestimmte Dinge lernen können, müssen sie manchmal „ins kalte Wasser geschmissen werden“ bzw. müssen sie in einen Zustand des Unbehagens gebracht werden, der dieses Lernen überhaupt ermöglicht.

Um zu Lernen, brauchen wir ein gewisses Maß an Unbehagen

Im Adaptive-Leadership-Ansatz wird das, was ich hier beschreibe, auch gerne mit dem nachstehenden Graph dargestellt: Demnach gibt es für alle sozialen Systeme, Gruppen, Branchen, Organisationen, Gesellschaften etc. eine Komfortzone. Dort befinden sie sich am liebsten. Denn der Mensch mag nicht nur keine Verluste, er mag in der Regel auch kein Unbehagen. Adaption und Lernen kann jedoch erst stattfinden, wenn ein Mindestmaß an Unbehagen – so genannte „produktive Unruhe“ – im System hergestellt ist. Erst dann sind die Beteiligten in der Lage, sich mit den Lern- und Adaptionsanforderungen auseinanderzusetzen.

Es ist in diesem „Zustand des Unbehagens“, in dem Weiterentwicklung und die Bewältigung adaptiver Herausforderungen stattfinden kann.

Die nachstehende Abbildung versucht, die Entwicklung von „Unruhe“ oder „Unbehagen“ im System beim Umgang mit technischen und adaptiven Herausforderungen zu illustrieren:

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Die schwarze Kurve stellt dar, wie es um Unruhe bestellt ist, wenn man sich mit einem technischen Problem befassen muss. (Man stelle sich beispielsweise vor: Mein Kind hat Hunger.) Sobald das Problem auftritt, steigt die Unruhe zunächst stark an (Kind hat Hunger, schreit, weint, ruft „Ich habe Hunger!“). Doch als Eltern weiß man, wie man das Problem „hungriges Kind“ löst – zumindest im wirtschaftlich wohlhabenden Westen: Man gibt dem Kind etwas zu essen. Sobald diese vergleichsweise einfache, „technische Lösung“ für das „Problem“ stattgefunden hat, sinkt die Unruhe wieder in die Komfortzone zurück.

Der Versuchung einfacher Antworten widerstehen

Anders verhält es sich bei adaptiven Herausforderungen (graue Kurve): Auch hier stellt das System – die Familie, die Eltern, eine Organisation – fest, dass es sich einer Herausforderung gegenübersieht. Die Unruhe steigt.

Nehmen wir zur Veranschaulichung eines solchen adaptiven Prozesses die Herausforderung „Einwanderung“. Ich würde diese Herausforderung nicht als technische, sondern als eine klar adaptive Herausforderung beschreiben. Auch hier hat das System bzw. haben die Menschen, die dieses System konstituieren, den Drang, die Unruhe schnellstmöglich wieder zu senken und in eine Komfortzone zu gelangen. Das tun sie durch das Formulieren einfacher, technischer Antworten. Die lauten dann beispielsweise „Das schaffen wir!“ oder „Ausländer raus!“.

Das Problem an der Sache ist: Diese vermeintlich einfachen Antworten sind faktisch keine Lösungen für die adaptive Herausforderung. Denn eine adaptive Herausforderung erfordert Lernen und Adaption. Einfache Antworten können die Notwendigkeit von Lernen und Adaption nicht ersetzen. Und für Lernen und Adaption müssen wir uns länger im Bereich der produktiven Unruhe bewegen und gemeinschaftlich so genannte „adaptive Arbeit“ tun. Das heißt konkreter: Wir müssen uns damit auseinandersetzen. Was von unserem Glaubens- und Werteverständnis muss sich verändern, welche Teile unserer bisherigen DNA müssen wir abstoßen, welche neue DNA entwickeln, um den neuen Rahmenbedingungen – z. B. denen einer Einwanderungsgesellschaft, in der die Mehrheit nicht mehr blond und blauäugig ist – gerecht zu werden? Hier noch einmal zum Post, der auf das Thema Lernen und das hier genutzte Bild der DNA eingeht.

Einfache Antworten können die Notwendigkeit von Lernen und Adaption nicht ersetzen.

Veränderung und Leadership

Solche adaptive Arbeit ist nicht einfach. Der Mensch befindet sich einfach am liebsten in der Komfortzone, in der alles gut ist. Verschiedene Handlungen, mit denen wir Menschen adaptiver Arbeit gezielt aus dem Weg gehen, heißt deshalb im Fachjargon von „Adaptive Leadership“ auch „Arbeitsvermeidung“. Denn diese Handlungen dienen vor allem dazu, uns selbst zurück in die Komfortzone zu bringen.

Im Kontext der Flüchtlings- und Einwanderungssituation in Deutschland kann man, denke ich, folgende Handlungen als beispielhafte „Arbeitsvermeidung“ qualifizieren:

  • Verteufelung von Muslimen
  • Überfokussierung auf kulturelle oder religiöse Symbolik, z. B. auf den Hidschab, auf Minarette
  • Pauschalisierung von AfD-Wählern als Nazis
  • Verteufelung von „Wir schaffen das“-Kritikern als schlechte Menschen
  • Suchen und Finden von Sündenböcken im Sinne von #DankeMerkel

Arbeitsvermeidung hilft uns also mit einfachen Erklärungen, mit klaren Schuldigen und/oder mit simplen Antworten zurück in ein subjektives Gefühl von Gleichgewicht zu kommen. Interessanterweise kann Arbeitsvermeidung aber nicht nur in Richtung der Komfortzone, also „nach unten“ stattfinden, sondern auch in Richtung einer unproduktiven Zone, d. h. „nach oben“. Hier wird das Unwohlsein im System so stark erhöht, dass man sich ebenfalls nicht mehr produktiv mit einer adaptiven Herausforderung auseinandersetzen kann. Hier dominiert dann Konflikt, hier sind Streit, Hass, Revolution verortet und auch hier kann keine adaptive Arbeit mehr stattfinden.

Die nachstehende Abbildung versucht beide Richtungen der Vermeidung von adaptiver Arbeit – in Richtung Komfortzone und in Richtung unproduktive "Kriegszone" – darzustellen.

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Sowohl in der Komfortzone, als auch in der unproduktiven Zone jenseits der „Explosionsschwelle“ kann kein Lernen, keine Adaption, kein Fortschritt stattfinden.

Was heißt das nun für Leadership?

Für Leadership heißt das, nach dem Konzept von Adaptive Leadership: Leadership ist alles, was einem sozialen System hilft, sich innerhalb der produktiven Lernzone zu bewegen. Dazu gehören alle Handlungen, die sozialen Systemen – Gesellschaften, Organisationen, Branchen, Teams – dabei helfen

  • sich mit ihren adaptiven Herausforderungen auseinanderzusetzen.
  • adaptive Arbeit nicht (weiter) zu vermeiden.
  • Fortschritt zu erreichen bei einem Adaptions- und Lernprozess, um von einem nicht mehr nachhaltigen Ausgangspunkt A zu einem noch nicht ganz klaren, jedoch zukunftsfähigen Punkt B zu gelangen.

Die gute Nachricht an dieser Definition ist: Leadership ist in keiner Weise an irgendeine Rolle oder Funktion geknüpft. Ob nun formell Chef oder Aushilfskraft – jeder kann Leadership ausüben. Denn Leadership ist kein Zustand sondern bemisst sich an der Tat, ein soziales System in einen Zustand produktiver Unruhe zu bringen, um dort adaptive Arbeit zu erledigen.

Die möglicherweise nicht ganz so gute Nachricht für viele: Leadership ist ganz schön anstrengend. Denn effektives Leadership heißt häufig, Unruhe heraufzubeschwören. Das ist nicht immer nur angenehm und damit macht man sich nicht immer nur Freunde.

„Evoking“ und „Provoking“

Einer meiner Professoren für Adaptive Leadership an der Harvard Kennedy School unterschied bei Leadership-Interventionen zwischen „Evoking“ und „Provoking“ – wobei ersteres die sanftere, letztere die rabiatere Art und Weise ist, um adaptive Arbeit und Unruhe in einem sozialen System hervorzurufen und zu managen. Und gehen wir mal in uns und fragen uns sehr ehrlich, was wir von Provokateuren so halten, werden sich die wenigsten von denen, die bis zu diesem Abschnitt überhaupt gelesen haben, als aufrichtige Fans von Provokateuren im Allgemeinen bezeichnen können.

Dennoch sind es oft (nicht immer!) die Provokateure, die immer wieder wichtige adaptive Arbeit anstoßen. Wie in nachstehender Abbildung dargestellt ist es nämlich das Bewegen von Gruppen und sozialen Systemen in die produktive Lernzone – z. B. durch Provokation durch die Konfrontation mit unangenehmen Wahrheiten oder Perspektiven – die adaptive Arbeit erzeugen und Lernfortschritt erzeugen. Und deshalb ist es "Leadership".

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So ist dieser Post nun auch schon wieder vorbei und hatte nun gar nichts mit der Medienbranche zu tun. Er legt aber immerhin ein paar Grundlagen, auf denen ich in meinem nächsten aufbauen möchte, um zu beschreiben, wo in Journalismus und Medienbranche wahrscheinlich adaptive Arbeit, Veränderung und Leadership notwendig sind. Darauf möchte ich in meinem nächsten Post "Wo mehr Leadership in Medienbranche und Journalismus nötig ist und warum" eingehen.

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