Adaptive Herausforderungen in der Medienbranche – das "Misfit" des Branchendiskurses

Dieser Blogpost ist Teil 2 der Reihe „Ein mehrteiliges Plädoyer für mehr Leadership in Journalismus und Medienbranche“.

Adaptive Herausforderungen in der Medienbranche – das "Misfit" des Branchendiskurses

Hier geht's zum einleitenden Ausgangstext. „Adaptiv whaaat?!“, fragt sich jetzt vielleicht der ein oder andere. „Ist ihr der Schreibstoff ausgegangen oder hat ihr ein dubioser Guru irgendeinen Esotherik-Vogel ins Ohr gesetzt?“

Nein. Was ich mit diesem Post bezwecken möchte, ist, ein Verständnis dafür zu schaffen, mit welcher Art von Herausforderungen die Medienbranche die letzten Jahre zu tun hatte und sich auch noch einige weitere Jahre auseinandersetzen muss. Und dass diese Art von Herausforderung gerne unterschätzt wird, weil sie eine recht unangenehme Art von Herausforderung ist: nämlich eine so genannte „adaptive Herausforderung“.

Was ist eine adaptive Herausforderung?

Nach dem Adaptive-Leadership-Ansatz von Heifetz et al. muss zwischen zwei Arten von Herausforderungen unterschieden werden: technischen und adaptiven Herausforderungen. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds zieht Ronald Heifetz regelmäßig die Geschichte eines Herzpatienten heran: Man stelle sich vor, ein Mann hat einen Herzinfarkt.

Was ist die Lösung für dieses Problem?

Klar, man ruft den Krankenwagen, Ärzte kümmern sich um ihn, Herzspezialisten nehmen eine Bypass-Operation vor. Der Mann hat überlebt.

Ist damit das Problem gelöst? Ja und nein. Denn natürlich hat der Mann überlebt. Aber wenn der Mann täglich eine Flasche Wein getrunken, sich eher fett ernährt hat und Sport und Bewegung gegenüber eher abgeneigt ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb weniger Monate bis Jahre der nächste Herzinfarkt erfolgt, recht hoch – sofern er diesen Lebensstil nicht verändert.

Es ist also eine Veränderung des Lebensstils erforderlich, damit der Mann langfristig überlebt. Dadurch wird die Herausforderung des Herzleidens zu einer adaptiven Herausforderung. Sie fordert eine Anpassung, eine Veränderung von liebgewonnenen Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten vom Herzpatienten ein: Er muss aufhören zu trinken, sich gesünder ernähren, sich mehr bewegen. Die vorläufige technische Lösung – der Bypass – löst dieses adaptive Problem für den Mann nicht. Genauso wenig löst der Herzchirurg das größere Problem mit der Bypass-Operation: Er verhilft dem Infarkt-Patienten zwar insofern, als dass er den Tod vorläufig abwendet. Einen Lebenswandel hin zu einem gesünderen Lebensstil kann der Chirurg ihm jedoch nicht abnehmen.

Der Unterschied zwischen technischen und adaptiven Herausforderungen

Diese logische Unterscheidung zwischen technischem und adaptivem Problem lässt sich auf nahezu alle Herausforderungen anwenden: Denn es gibt in der Tat Probleme, die sich rein technisch, also durch Expertise, Know-how und solche Experten, die besonders viel davon haben, lösen lassen (z. B. Herzchirurgen). Es gibt aber ebenso zahllose Herausforderungen, bei denen Expertise und Know-how zwar vorläufige Linderung verschaffen können, aber zu keiner Lösung führen.

Die Überwindung adaptiver Herausforderungen erfordert Anpassung, Lernen und oft auch ein Abschiednehmen von einstigen Selbstverständlichkeiten. Das können keine Experten mit viel Know-how übernehmen. Lernen und sich anpassen müssen die, die sich mit der Herausforderung konfrontiert sehen.

Bei obigem Herzpatient ist es beispielsweise nicht nur am Herzpatienten, seine Essgewohnheiten zu verändern, sondern auch an seiner Familie, ihn dabei zu unterstützen. Dies erfordert eine Veränderung von Prioritäten, Werten, von – in Denglisch – „Hearts & Minds“. Auch die Familie des Herzpatienten muss sich darauf einlassen, sich gesünder zu ernähren, weniger Alkohol zu konsumieren usw.

Die Fähigkeit zur Änderung von Werten und Überzeugungen ist grundsätzlich keinem Menschen in die Wiege gelegt. Das macht den Umgang mit adaptiven Herausforderungen so schwer.

Marty Linsky, der mit Ronald Heifetz zusammen das Konzept in den vergangenen Jahrzehnten laufend weiterentwickelt, unterrichtet und in Beratungsprojekten genutzt hat, erzählt in einem TEDx Talk von einem sehr persönlichen Beispiel einer adaptiven Herausforderung, die das Beschriebene nochmals veranschaulicht.

Die Fähigkeit zu Veränderung ist grundsätzlich keinem Menschen in die Wiege gelegt. Deshalb ist der Umgang mit adaptiven Herausforderungen so schwer.

Nachstehende Darstellung systematisiert den Unterschied zwischen technischen und adaptiven Herausforderungen, auf den im Weiteren ebenfalls immer wieder erläuternd eingegangen werden soll.

![ac68a64e-ae97-4e46-bbfb-a670104cacb4]

Warum die Betrachtung des digitalen Wandels als adaptive Herausforderung eine Chance sein kann

Nun einen Schritt weg von der Theorie und hin zum Fallbeispiel der Medienbranche von heute: Die Medienbranche und der Journalismus befinden sich weltweit in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess, der durch die Digitalisierung, neue technologische Möglichkeiten und ein verändertes Medienkonsumverhalten der breiten Masse verursacht wurde.

So weit nichts Neues.

Diesen Veränderungsprozess und den Umgang mit der Herausforderung „Digitalisierung“ jedoch bewusst als adaptive Herausforderung zu betrachten, kann meines Erachtens eine Chance sein: Hierdurch können neue Perspektiven und vielleicht ganz neue Handlungsoptionen dafür gewonnen werden, wie dieser Veränderungsprozess erfolgreich vorangetrieben werden kann.

Der digitale Wandel als adaptive Herausforderung für Journalismus und Medienbranche

Was aus obiger, schematischer Abbildung zur Unterscheidung von technischen und adaptiven Herausforderungen schon einmal hervorgeht, ist, dass sich adaptive Herausforderungen oft nicht so einfach in einem Satz zusammenfassen lassen. Denn im Gegensatz zu technischen Herausforderungen hat diese Art von Problemen wenig Wiedererkennungswert, ist komplex und vielschichtig und sieht aus verschiedenen Perspektiven oft sehr unterschiedlich aus.

Man nehme das Thema Armut: Was ist hier das Problem? In einem Satz? Wie löst man das Problem? Wer ist der Verantwortliche bzw. an welchen Experten kann man sich zur Lösung des Problems wenden?

Nun nehme man den digitalen Wandel der Medienbranche: Was ist hier das Problem? In einem Satz? Wer ist für die Lösung dessen verantwortlich und in der Lage?

Ich hoffe zumindest, dass die meisten Leser dieses Blogposts ebenfalls der Meinung sind, dass die Antworten auf diese Frage nicht ganz so einfach sind. Stattdessen sind sie komplex und vielschichtig. Erfahrungswerte, wie man mit so einem digitalen Wandel gut umgeht, gibt es nicht. Für die Beantwortung dieser Fragen, d. h. für die bloße Feststellung des Problems, geschweige denn die Identifikation von Lösungsoptionen gibt es keine eine, klare Antwort. Genauso wie es für Leute, die Jahrzehnte Junkfood gegessen, geraucht und getrunken haben, nicht so einfach ist, diese Gewohnheiten von einem auf den anderen Tag aufzugeben.

![016a1b95-01dd-40ff-9a4b-a397df525f53]

In meinem nächsten Blogpost möchte ich das Bild der „Adaption“ näher erklären und wie es sich sinnbildlich auf Medienbranche und Journalismus übertragen lässt. Außerdem möchte ich beginnen, ein paar Aspekte dessen zu beleuchten, was die „digitale Herausforderung“, mit der sich die Branche konfrontiert sieht, zu einer adaptiven macht.

In einem weiteren Post zur Logik von Lernen und Veränderung gehe ich darauf ein, warum es Menschen allgemein schwer fällt, sich zu verändern und daher auch, mit adaptiven Herausforderungen auseinanderzusetzen. Natürlich erläutere ich hierzu wieder etwas Theorie des Adaptive-Leadership-Ansatzes, insbesondere die Konzepte der „produktiven Unruhe“ in sozialen Systemen und der „Vermeidung adaptiver Arbeit“. Ich zitiere dafür u. a. ein paar Beispiele, wie sich die Adaptionsresistenz in den letzten Monaten in der Branche unter anderem gezeigt hat – im Fachjargon: Wie „adaptive Arbeit“ gezielt vermieden wurde.

Logo